Körperhandlungen wider die Apparatenwelt
Körperhandlungen
wider die Apparatenwelt
(…) Die Skulpturen von Heinz Breloh beziehen am direktesten, greifbarsten Stellung gegen die digitale Abstraktion. Er erfindet die Plastik neu, indem er auf ihre Ursprünge zurückgeht und ihre Möglichkeit in Gegenwart und Aktualität erkundet. Er zieht, als Bestätigung, Ressourcen aus der Kunstgeschichte hinzu und verschmilzt sie mit der eigenen, neu begründeten Körperkunst. Er findet Brückenköpfe bei prähistorischer Keramik auf Malta, beim nonfinito Michelangelos, den Ton-Bozetti von Carpeaux, den lichtdurchfurchten Oberflächen von Rodin, der Phänomenologie der Distanz bei Giacometti und registriert zeitgenössische Affinitäten vom Wiener Aktionismus bis zu Vito Acconci. Er reiht seine Plastik gezielt an eine Vorgeschichte der intensiven Modellierung und der Berührungsspur. Er ist ein denkender, ja, intellektueller Bildhauer und ein sinnlicher, lustvoller, ja, obsessionierter Künstler zugleich.
Er weiß, was er will, und er will, was er gemacht hat. Das Spektrum der Interpretationen reicht weit. So erhebt sich die offenkundige Nähe zur Morphologie des Verdauungsproduktes nicht nur zum Hinweis auf die „Urform menschlicher Produktion", sondern auch zur allzu unschuldigen Frage, wie Vitalität und Ästhetik sich derart splitten lassen. Ein anderer Autor erkennt im Arbeitsprozess „eine mögliche Form emanzipierter Libido" und in den „Lebensgrößen" eine Analogie zum Geschlechtsakt. Aber die Körperkontakte Brelohs mit seiner Plastik rufen auch Assoziationen an religiöse Bildwelten wie Kreuzigung, Grablegung und Veronika-Legende wach. „Die badenden Bildhauer" fügen sich nicht ohne Grund perfekt ins neu eröffnete Kölner Diözesan-Museum Kolumba. Auch rein formal gesehen, sind die Deutungen fast allumfassend, „als solle Skulptur nicht als Begrenzung von Form und Gestalt, sondern ebenso als deren Auflösung angesehen werden".
Breloh tangierte einen mythischen Archetyp des Plastischen, ja, eine Urform des Schöpferischen. Sie kommt kindlichen Aktivitäten ebenso nahe wie der ausgereiften, hoch reflektierten sculpture sculpture eines Medardo Rosso, die Fragen nach der Natur der Plastik durch sich selber beantwortet. Wenige Bildhauer arbeiten so authentisch im Einvernehmen mit den Determinanten von Material, Volumen, Raum- und Menschenbild. Wenige setzten sich gleichzeitig so weit vom akademischen Kanon und der kunstgeschichtlichen Überlieferung ab. Wenigen gelang es, das eigene Paradigma in die Breite einer derart reichen Produktion zu entfalten. Denn auch das ist wichtig: Wenige hielten mit so großer Ausschließlichkeit, Leidenschaft, Ekstase und Genauigkeit am menschlichen Körper als Maß aller Dinge fest. Beim reifen Breloh steckt die Plastik16 in keiner Krise ihrer Identität, denn er hat den Zugang des Bildhauers zur Darstellung des Menschen auf eigenwillige Weise neu erfunden und ausformuliert. Er bewahrt damit nicht nur das viel beschworene Menschenbild in der Skulptur: ein Menschenbild, das nichts, aber auch gar nichts, mit abendländischen Gemeinplätzen zu tun hat, sondern auf einem ganz nahen, sinnlichen Umgang mit dem Material beruht. Es enthält nicht nur ein Abbild, sondern eine Konzeption des Menschen: eine Konzeption, die den Menschen dichter an sich selbst und seinen psychophysischen Kern heranführt.
Die Plastik von Breloh verkörpert eine greifbare Gegenkraft zur elektronischen Abstraktion. Der Knopfdruck wird durch den Abdruck ersetzt. Der Kontrast zur Welt der Apparate könnte nicht zwingender sein.
Manfred Schneckenburger, Künstlerischer Leiter der documenta 6 und 8.
Textteile entnommen aus dem Ausstellungskatalog "Heinz Breloh. Skulptur als Körperspur", 2008. (Unterstützt durch die Kunststiftung NRW).